Die Covid19-Impfpflicht forciert gesellschaftliche Konflikte

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Durch den Krieg in der Ukraine finden wir uns in einer ganz anderen weltpolitischen Lage wieder als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der „7 Argumente“. Daher sei Folgendes vorausgeschickt: In der gegenwärtigen Situation schaden uns innerliche Zerwürfnisse in besonderem Maße. Deshalb treten wir nachdrücklich dafür ein, dass sich die Politik in der äußerst kontroversen Frage der Impfpflicht zurücknimmt; auch um so die gesellschaftliche Kohärenz wiederherzustellen, die wir jetzt dringend benötigen.

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Eine Impfpflicht vertieft die Spaltung der Gesellschaft

Argument 7 kritisiert die Spaltung der Gesellschaft, auf den ersten Blick in zwei Gruppen: Eine Mehrzahl, die dem staatlichen Corona-Narrativ folgt, die Ordnungsmaßnahmen und eine Impfpflicht befürwortet. Und eine (ver)zweifelnde, mitunter auch geimpfte Minderzahl, die auf der Freiheit der Impfentscheidung besteht.

Bei näherer Betrachtung sind weitere Risse, Verästelungen des großen Bruches auszumachen, hier nur oberflächlich skizziert: Wir begegnen Menschen mit Impfung, die sich vor dem Virus und seinen Mutationen fürchten; des Weiteren achtsamen und nachdenklichen Menschen, deren Ängste ernst zu nehmen sind. Und dann gibt es die große Gruppe derer, die sich nach einem normalen Leben sehnen. Sie stehen damit verbindend zwischen den Befürwortern und den Skeptikern. Am Rande finden wir Fanatiker, auf beiden Seiten. Zudem wandeln sich die erwähnten Haltungen. Positionierungen verschieben sich, mit neuen Erfahrungen und einer veränderten Informationslage.

Vertieft aber wird die große Spaltung durch die geplante Impfpflicht, die dem zweifelnden Lager, darunter zahlreiche Menschen aus dem medizinischen Bereich, weder notwendig noch verantwortbar erscheint – angesichts vieler offener Fragen bezüglich der Nebenwirkungen.

Wir gehen davon aus, dass diese Spaltung nur überwunden werden kann, wenn sich der Diskurs für kritische Positionen1 so weit öffnet, dass die sachlich begründeten Anliegen der Skeptiker ohne Schmähungen vorgetragen werden können – und diskursiv in die Corona-Politik einfließen.

Gute Lösungen durch gleichberechtigten Austausch von Argumenten

Insbesondere sollten die Exekutiven auf Bundes- und Landesebene sowie die ihrer Corona-Politik nahestehenden Medien erkennen, dass die Opponenten keine Feinde der Demokratie sind, sondern Menschen, die die fortschreitende Erosion von Grundrechten mit wachsender Sorge verfolgen. Beide Seiten des Grabens müsste die Überzeugung einen, dass nur der offene und gleichberechtigte Austausch von Argumenten zu den besten Lösungen führen kann. Bislang war ein solcher Austausch kaum möglich, denn die bisherige Debatte scheint in beklagenswertem Ausmaß geprägt von:

  • argumentativen Doppelstandards: Corona-Opfer sterben „an und mit Covid“, aber bei Impftoten muss zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass die Impfung primäre Todesursache war,2

  • Unterstellungen und Pseudo-Argumenten, etwa: Man müsse manchmal die eigene Freiheit hinter das Gemeinwohl3 zurückstellen –, was Gegner einer Impfpflicht gar nicht bestreiten; allerdings fragen sich viele, ob eine Impfpflicht nicht zu Unrecht mit dem allgemeinen Wohl in Verbindung gebracht wird.

Aufgabe der Medien: Informationen sachlich und differenziert vermitteln

Aufgabe der Medien wäre es dabei gewesen, die Informationen zur Verbreitung des Covid19-Virus in sachlicher und differenzierter Weise geprüft an die Bevölkerung zu vermitteln. Im medialen Routinebetrieb mögen Übertreibungen, Einseitigkeiten, Diffamierungen und Grotesken zur Erhöhung der Aufmerksamkeit üblich sein. Wenn diese Effekte sich zu einem großen Katastrophennarrativ multiplizieren, können sie ein Gemeinwesen allerdings beschädigen. In Einzelfällen versuchten Journalisten etwa, essenzielle wissenschaftliche Debatten und legitime Gegenmeinungen durch Polemik zu unterbinden.4

Gleichzeitig wurden Informationen anders gerahmt,5 was zur weiteren Beeinträchtigung einer offenen, ergebnisorientierten Debatte führte. Dabei erwiesen sich die routinierten Kommunikationstechniken zur Durchsetzung des hygienischen Imperativs als äußerst kontraproduktiv für den demokratischen Diskurs, insbesondere nach Auftreten der Omikron-Variante. Einerseits fühlten sich kritisch denkende Menschen bedrängt, übervorteilt, manipuliert. Andererseits wagt nach zwei Jahren Krisenpolitik6 und Angstjournalismus ein Teil der Bürger noch nicht, zur Normalität zurückzukehren.

Und noch immer werden in manchen Leitmedien Ressentiments gegen das Andere – anderes Denken, andere Meinungsäußerungen, anderes Verhalten – geschürt. Gewiss müssen sich Journalisten sehr häufig auf eine verbale Gratwanderung begeben, stets in Gefahr auszugleiten: mit dem Blick auf Klicks, die eigene Subjektivität, die Erwartungen der Redaktion, den hohen Zeitdruck, formale Beschränkungen, auch die Unsicherheit prekärer Arbeitsverhältnisse. Umso positiver wirken vor diesem Hintergrund die Bemühungen unabhängiger Berichterstatter und einzelner Journalisten der Leitmedien, kritisch nachzufragen, tiefer zu recherchieren, die Positionen aller beteiligten Seiten unvoreingenommen wiederzugeben.

Wirkungen der öffentlichen Sprache

Teil des Problems ist eine öffentliche Sprache, die Pauschalurteile, Beschönigungen und problematische Bedeutungsverschiebungen verstetigt. So unterstellen die abwertenden Termini „Corona-Leugner“ oder sogar „Covidioten“, Kritiker der Pandemiepolitik würden die Existenz des Virus oder der von ihm verursachten Krankheit leugnen –, was kaum der Fall ist. Mit der „2G-Regel“ wurde ein Euphemismus für den drastischen sozialen Ausschluss von Menschen ohne Impfung in die Welt gesetzt.

Auch die „Tyrannei der Ungeimpften“ schafft als pauschale Schuldzuweisung Sündenböcke und diffamiert Angehörige aller gesellschaftlichen Gruppen. Obwohl gerade Menschen ohne Impfung am stärksten von den Corona-Maßnahmen betroffen und am wenigsten an ihrer Entstehung und Umsetzung beteiligt sind. Der Begriff „Impfung“ setzt ein implizites und medizinisch zweifelhaftes Gleichheitszeichen zwischen die herkömmlichen Impfstoffe und die neuen, experimentellen mRNA-Seren. Der Erwerb von Immunität, das eigentlich entscheidende Kriterium für den Übergang von Pandemie zu Endemie, wurde vom Begriff des Impfens verdrängt oder mit ihm gleichgesetzt.

Die Impfung selbst wird von Politikern, Leitmedien und Wissenschaftlern als „Piks“ verniedlicht.7 Der psychische Zwang, der faktisch erzwingende Charakter der Impfpflicht – resultierend in den Eingriff in die Unverletzbarkeit des menschlichen Leibes – wird kleingeredet; durch eine Gegenüberstellung zu noch brutaleren Handlungen wie der „Zwangsimpfung“ unter Einsatz körperlicher Gewalt.8 Nicht zuletzt wurde der Begriff der Solidarität, also das für jede Gesellschaft lebensnotwendige wechselseitige Einstehen füreinander, in unerträglicher Weise auf die Impfbereitschaft verengt.9 Doch Solidarität lässt sich nicht erzwingen, ohne sie zu zerstören.

Ursachen der Spaltung

Die Spaltung geht in Deutschland wahrscheinlich tiefer als in vielen unserer Nachbarländer. Wie aber ist sie entstanden? Wie konnte es so weit kommen?

Unsere Erklärung dafür ist, dass die Ursachen auch in einer moralisierenden, fast religiösen Engführung des politischen Diskurses zu suchen sind. Dabei zählt nicht mehr das rationale Argument, das Abwägen, verbunden mit einer gehörigen Portion Reflexionsfähigkeit. Im Gegenteil: Eine Agenda wird durchgesetzt, Zweifelnde werden verunglimpft, Selbstkritik beschränkt sich höchstens auf ein Defizit an Kommunikation.

Die Zweifel seien hier nur kurz erwähnt: Sie beziehen sich auf die Geeignetheit der Impfstoffe, die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen, deren Wirksamkeit und rechtsstaatliche Legitimität; auf das politische Geschehen, sofern es sich hinter den Kulissen abspielt, also etwa auf die Rolle von Lobbyismus, Interessenkonflikten10 und langfristigen Transformationsstrategien.11 Denn auch diese haben die Corona-Politik beeinflusst, wurden jedoch von einer Katastrophenkommunikation übertönt. Solange sich Politik, Medien und Berufsverbände solcher Themen nicht unvoreingenommen und offen annehmen, wird es wohl keine Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung geben.

Vorgeschichte(n)

Längerfristige Entwicklungen verdeutlichen in diesem Zusammenhang, was uns in die jetzige Situation geführt haben könnte. Zu Beginn der Pandemie lagen in Deutschland mehrere ungünstige Voraussetzungen vor, die den oben erwähnten, staatlichen Umgang mit Corona beförderten. Zu nennen wäre an erster Stelle die schleichende Abwertung einer Zivilgesellschaft, die als Regulativ in der Lage wäre, dem Staat und seinen Behörden Grenzen zu setzen.12 So hatten sich schon vor den Corona-Jahren große Teile der meinungsbildenden Elite angewöhnt, den Kurs der Regierung gegen Kritik abzuschirmen – etwa in Fragen der Migrations- und Klimapolitik.

Natürlich hat diese Konstellation eine Vorgeschichte: Bereits die Adenauer-Regierung entfesselte im Windschatten McCarthys eine Kampagne gegen Kommunisten, die 1956 mit einem Parteiverbot endete. Eine Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung betrachtete 1968 die rebellierenden Studenten noch als „Gammler“ und „Drückeberger“. Auch von Berufsverboten betroffene Beamte, Wehrdienstverweigerer, Mitglieder der Anti-AKW- und Friedensbewegung waren später gezwungen, sich im Spannungsfeld von Außerparlamentarischer Opposition und Mehrheitsdiskurs zu rechtfertigen –, was ihnen, wie wir heute wissen, gelungen ist. Im Laufe von drei Jahrzehnten erreichte die 68er Generation eine weitreichende Neudefinition unserer gesellschaftlichen Werte und Ziele.

Und doch lässt sich ebenso feststellen, dass die Auflösung des Oppositionsbegriffes, die Passivisierung13 mit dem Marsch der Achtundsechziger durch die Institutionen begann. Sie setzte sich fort in den ersten Regierungsbeteiligungen der Grünen, mündete schließlich in die Ära Merkel, als selbst die Christdemokraten Schritt für Schritt grüne Programmatik aufnahmen. Im Ergebnis formierte sich eine politische Elite, die den moralischen Impetus der Achtundsechziger mit einem selbstverständlichen Anspruch auf die politische Macht verband. Hier schloss sich dann, für die meisten unbemerkt, der Kreis zur abgeschotteten politischen Mentalität im Stile der 50er Jahre. Ausgestattet mit einer siegesgewissen Zukunftsvision vom „Ende der Geschichte“ bildete sich ein Regierungslager, welches ganz selbstverständlich auch die „Solidarität“ der Gesellschaft gegen ihre „Feinde“ beanspruchte, dabei aber nicht aufhörte, sich „liberal“ zu nennen.14

Diese Entwicklung blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Demokratieverständnis. Zur Gemeinschaft guter Demokraten gehörte jetzt vor allem, wer das Grundgesetz im Sinne der Regierung und ihrer Unterstützer auslegte. Die für eine Demokratie konstitutive Gewaltenteilung (Kontrolle der Exekutive durch Parlament und Justiz) wurde ausgehöhlt. Dieser Trend verstärkte sich in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Angela Merkels, weil liberale Demokratien weltweit durch autoritäre oder populistische Strömungen in Bedrängnis gerieten.

Insbesondere die Präsidentschaft Donald Trumps in den Vereinigten Staaten löste in Deutschland eine enorme Verunsicherung, dann die Verhärtung des Regierungslagers aus.15 Schon vor Corona gab es Klagen über die Spaltung der Gesellschaft, der man mit Marginalisierung der Nicht-Einverstandenen und einer ostentativ korrekten Haltung begegnete. Diese Tendenzen manifestierten sich insbesondere an migrationskritischen Positionen in Ostdeutschland. Zu diesem Zeitpunkt bestand in Exekutive und Legislative allerdings noch ein bedeutendes moralisches Kapital: Angela Merkels Flüchtlingspolitik konnte sich auf die universelle Menschenwürde berufen, den wichtigsten Verfassungsgrundsatz, der sich auch auf Menschen erstrecken müsse, die in Deutschland um Aufnahme ersuchten. Viele Menschen, die später wegen der Corona-Maßnahmen in die Opposition gegangen sind, unterstützten deshalb damals noch die Linie der Regierung und der Leitmedien. Die Flüchtlingspolitik Angela Merkels war umstritten, aber in den Augen vieler doch gedeckt durch die Werte des Grundgesetzes.

Mit der Corona-Politik änderte sich dies zusehends. Regierung und viele Leitmedien verloren zahlreiche ehemalige Unterstützer (davon unzählige aus der nunmehr grünen Mitte)16: Die Mischung aus harten Maßnahmen, intransparenter Kommunikation, mangelhafter Datensammlung und diskursiver Ausgrenzung wirkte – trotz der anfangs realen Bedrohung durch das Virus – toxisch. Die schon vorher vorhandene Polarisierung der Gesellschaft wurde auf diese Weise systematisch vertieft. Die Antwort der Politik auf die Existenz der „Anderen“ war nun offen autoritär. Hartnäckigen Skeptikern begegnete man nicht mehr durch Dialog und Kompromiss, sondern durch mediale Ausgrenzung, polizeilich durchgesetzte Verbote, sogar den Verfassungsschutz.17 Das Institutionenvertrauen, wichtiges Gut etablierter Demokratien, wurde auf eine schwere Probe gestellt.

Gefährliche Vermischung: die Rollen von Wissenschaft und Politik

Uns als Menschen aus der Wissenschaft bewegt vor allem die Frage, welche Rolle das eigene Milieu in diesen Entwicklungen gespielt hat. Im Grundsatz gibt die Bundesregierung vor, wissenschaftsbasierte Politik zu machen. Sie nimmt für sich in Anspruch, mit „allgemein anerkannten“ Fakten den Rahmen des politischen Handelns abzustecken und gesellschaftlich zu legitimieren. Dies können wir im Grundsatz akzeptieren, unter der Einschränkung, dass das Individuum weiterhin die Möglichkeit haben muss, sich im Rahmen seiner durch das Grundgesetz gewährleisteten Freiheit und seiner Überzeugungen gegen besonders radikale Eingriffe – wie etwa eine Impfpflicht – zu wehren.

Das eigentliche Problem „verwissenschaftlichter“ Politik besteht allerdings darin, dass sie nicht das ist, was sie zu sein vorgibt. Anstatt politische Entscheidungen vor dem Hintergrund freier, breit und tief rezipierter Wissenschaft zu treffen, scharte die Bundesregierung schon zu Beginn der Pandemie einen kleinen Kreis einseitig argumentierender Experten um sich, die durch eine Engführung wissenschaftlicher Empirie den jeweils härtesten Kurs legitimierten: Darunter lange Lockdowns, harte Einschränkungen für junge Menschen, verbunden mit einer planlosen Digitalisierung des Bildungswesens18 und höchst widersprüchlichen Beschränkungen des kulturellen Lebens.19

Schließlich eine aggressive Impfkampagne, die belegbare Risiken und die Frage nach einer individualmedizinischen Notwendigkeit der neuartigen Impfung ignorierte. Wissenschaftliche Regierungsberater durften ihre mediale Präsenz nutzen, um Andersdenkende im eigenen Fach als „Faktenleugner“ zu denunzieren.20 Weil ein Großteil der Bevölkerung weder die Zeit noch die Energie fand, sich tiefer in die Corona-Materie einzudenken, setzte sich in vielen Köpfen das von der Regierung offenbar erwünschte manichäische Bild fest: Hier die gute Gesellschaft, die sich an Regierungsvorgaben hält, welche wiederum auf solider Wissenschaft basieren. Dort die Verschwörungstheoretiker, die Rechtsextremisten, die immer dreisteren Systemfeinde, die die Gesundheit und sogar das Leben ihrer Mitmenschen gefährden. Dass auch Zweifler sich auf valide wissenschaftliche Argumente berufen können, wurde ausgeblendet.

Die Ermöglichungsbedingungen für diese traurige Rolle von Wissenschaft bestanden dabei schon vor der Pandemie. Sie sollen hier in allgemeinen Zügen kurz benannt werden, um ähnliche Probleme in Zukunft (womöglich auf anderen Feldern) zu vermeiden:

– Das Primat der vermeintlich objektiven Naturwissenschaften über die Sozial- und Geisteswissenschaften,21 das früh dazu führte, dass die gesellschaftlichen Folgen der Pandemiepolitik zu wenig beachtet werden.22

– Die Priorisierung der millionenschweren Drittmittelforschung über die grundständige Forschung, weshalb Agenden aus Politik und Wirtschaft steuernd in die wissenschaftliche Arbeit einbrechen können und wissenschaftliche Institutionen in Interessenkonflikte gebracht werden.

– Die einseitige Betonung von Vernetzung und maximal mobilen Karrieren, wodurch die „scientific community“ sich in Lebensstil und -auffassungen immer mehr an die „internationale Laptopklasse“ angleicht –, obwohl eine Mehrzahl der Beschäftigten des Wissenschaftsbetriebs unter prekären Bedingungen arbeitet. Dabei verlieren selbst Forschende ihre Bindungen in jene gesellschaftlichen Milieus, die von der „Wissensgesellschaft“ und der „wissenschaftsbasierten Politik“ abgehängt sind – und unter deren Entscheidungen leiden.23

– Die immer häufigere Ausrufung paradigmatischer (und nicht selten ideologisch motivierter) „turns“, mit denen sich Wissenschaftler in die mediale Aufmerksamkeitsökonomie einschreiben, damit lautstarken Karrierismus sowie Opportunismus fördern, auf Kosten langfristig aufgebauter und kontinuierlich überprüfter Wissensbestände.24

– Die fortschreitende Moralisierung, also eine etablierte Routine, jeweils bestimmte Haltungen als böse zu markieren, aus dem Diskurs auszuschließen und auf diese Weise Konformitätsdruck zu erzeugen.

Pyramidale Machtstrukturen

All diese Tendenzen haben in den Augen vieler25 schon vor der Pandemie die Fähigkeit der Wissenschaft zur unvoreingenommenen Wahrheitssuche geschwächt und pyramidale Machtstrukturen geschaffen, in denen oft diejenigen am erfolgreichsten sind, die ihre Disziplin am geschicktesten mit herrschenden Diskursen verbinden, Gelder aus Staat, Wirtschaft und Stiftungen für die weitere Stärkung der eigenen Positionen nutzen, Andersdenkende schon auf dem kapillaren Niveau des Habitus und des sprachlichen Ausdrucks ausschließen und dieses eigene Verhalten schließlich mit „Wissenschaft“ gleichsetzen. Dass die breitere Öffentlichkeit, die kaum Interna aus dem Wissenschaftsbetrieb kennt, von diesen Mechanismen wenig weiß, hat den manipulativen Einsatz von Wissenschaft in der Corona-Krise enorm erleichtert.

Ausweg: offene und breite Debatte

Den Ausweg aus den gesellschaftlichen Konflikten sehen wir deshalb nicht in einer Impfpflicht, die zu gravierenden gesellschaftlichen Zerwürfnissen führen kann. Stattdessen benötigen wir eine offene und breite Debatte über die Angemessenheit der seit 2020 angewendeten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Diese Debatte sollte nicht nur in Politik und Öffentlichkeit stattfinden, sondern auch in jedem gesellschaftlichen Subsystem. Insbesondere in der Wissenschaft, eben weil sie als ultimative Legitimationsgrundlage der Corona-Politik herangezogen wurde und deshalb in Gefahr ist, sich nachhaltig zu diskreditieren.


1 Eine generelle Einführung liefert Ulrike Guérots Essay: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand der Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Frankfurt a.M. 2022.

3 Der Begriff des Gemeinwohls kann als problematisch empfunden werden. Allerdings wird er heute zumeist in unverfänglichen Kontexten verwendet, etwa bei der Gemeinwohl-Ökonomie. Eine alternative Formulierung wäre das „allgemeine Wohl“, das im zweiten Teil des Satzes steht.

4 Siehe zum Beispiel den völlig unangemessenen Artikel im Spiegel über den Ursprung des Coronavirus: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-was-es-mit-der-kruden-corona-studie-der-uni-hamburg-auf-sich-hat-a-6aa5c644-dea3-4958-88cb-de8b3413c7aa (09/03/21)

5 Etwa durch die Bilder gestapelter Särge, ebenso des Militärkonvois in Bergamo, die inzwischen auch in den öffentlich-rechtlichen Medien kritisch besprochen werden: https://www.br.de/kultur/wieso-das-foto-des-militaerkonvois-in-bergamo-fuer-corona-steht-100.html (09/03/21)

6 Vgl. dazu Günter Roths Beitrag auf seinem Blog ‚einfach kompliziert‘: Krisenpolitik – auf dem Weg zur autoritären Technokratie. 6. Mai 2021. Roth beschreibt in drei Teilen (1) die aktuelle Krise, (2) die Hintergründe endemischer Krisenwahrnehmungen und -diskurse in einem ‚Jahrhundert der Angst‘ sowie (3) die politische Bedeutung des Ausnahmezustandes und seine Legitimation. https://einfachkompliziert.de/krisenpolitik-auf-dem-weg-zur-autoritaeren-technokratie/ (14/03/2022)

10 Beispielhaft für diese beiden Symptome sei an dieser Stelle die Frage der Parteienfinanzierung genannt. Vgl. die Darstellungen bei Lobbycontrol: https://www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/parteienfinanzierung/ (14/03/22)

11 Hierher gehört etwa die Frage, ob die Corona-Maßnahmen uns in eine undemokratische Ära des „Überwachungskapitalismus“ katapultieren, vgl. dazu das schon vor der Pandemie entstandene Buch von Shoshanna Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M./New York 2018, aber auch ihre späteren Einlassungen dazu. Oder die in den Medien zu selten angesprochene (und häufig als Verschwörungstheorie geächtete) Frage, ob und wie globale Finanzeliten die Disruption durch Corona für sich zu nutzen versuchen. Dieses Thema macht sich vor allem fest an dem Buch des WEF-Direktors Klaus Schwab und des Ökonomen Thierry Malleret COVID-19: Der Große Umbruch. Genf 2020.

13 Die Passivisierung zeigt sich etwa in einer niedrigen Wahlbeteiligung, insbesondere auf Landes- und Kommunalebene. Selbstverständlich ergibt sich hier kein einheitliches Bild. Darüber hinaus sind auch die Gründe der Wahlabstinenz im Einzelnen nicht hinreichend erforscht. Aber es ist bemerkenswert, dass in 12 von 16 Bundesländern wenigstens ein Drittel aller Wahlberechtigten bei den letzten Landtagswahlen kein Votum abgegeben hat. Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/255400/umfrage/wahlbeteiligung-bei-landtagswahlen-in-deutschland-nach-bundeslaendern/ (14/03/22). Vgl. auch: Markus Steinbrecher: Turnout in Germany: Citizen participation in state, federal, and European elections since 1979. Baden-Baden 2007, sowie Jürgen Busche: Die 68er. Biographie einer Generation. Berlin 2003.

14 Vgl. das epochemachende, aber in seinen Zukunftsannahmen deutlich gescheiterte Buch von Francis Fukuyama: The end of history and the last man. New York 1992, und seine eifrige „Anwendung“ im wiedervereinigten Deutschland. Thomas Bagger: The world according to Germany. Reassessing 1989. In: The Washington Quarterly, 22.1.2019.

16 Nadine Frei, Oliver Nachtwey: Quellen des ‚Querdenkertums’. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg. Universität Basel. Basler Arbeitspapiere zur Soziologie, 5/2021, https://osf.io/preprints/socarxiv/8f4pb/ (09/03/22)

17 Um die Corona-Proteste unter Beobachtung stellen zu können, musste ein neuer Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet werden: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html. (09/03/22)

18 Vgl. dazu beispielhaft die Stellungnahmen des Offenburger Mediendidaktikers Ralf Lankau vom 20.12.2020 zu drei Anträgen (FDP / CDU / SPD, Grüne, Linke) im Thüringer Landtag, die eine stärkere Digitalisierung von Schulen vorsahen: https://rainer-lind.de/wp-content/uploads/2020/12/02_landtag_thueringen_Stellungnahme_lankau.pdf (09/03/22). Lankau bemängelt darin vor allem die pädagogische Konzeptionslosigkeit der Anträge. Ebenso: Matthias Fechners Analyse der Digitalisierung an Schulen in Rheinland-Pfalz während des Lockdowns: Digitalisierung statt Menschenbildung? Eine Weichenstellung für die Zukunft. In: GEW-Zeitung Rheinland-Pfalz. 9/2020. 12-14; außerdem, vom gleichen Autor, mit einer historischen Herleitung von Bildungspolitiken seit dem 18. Jahrhundert: Der Mensch als Ziffer? Pädagogik vor der Digitalisierung. In: Coincidentia. Band 11/1 (2020). 243-282.

19 Vgl. Christian Lehmanns Darstellung der positiven gesellschaftlichen Wirkungen von Musik und ihre Verhinderung während des Lockdowns: Erst Flöte spielen, dann das Rad erfinden. In: Frische Sicht. Presseportal für unabhängigen Journalismus. 14. März 2021. https://www.frischesicht.de/erst-floete-spielen-dann-das-rad-erfinden/ (14/03/2022)

20 Jörg Phil Friedrich: Drosten und die Leugner. In: Die Welt, 13.4.2021: https://www.welt.de/kultur/plus230155717/Lockdown-Christian-Drosten-und-die-Leugner.html (09/03/22)

21 Vgl. dazu Ole Dörings Beschreibung dieser Entwicklung, im zweiten Teil seiner Analyse der Vorgeschichte bzw. der Erosion gemeinnütziger Infrastrukturen, des Solidaritäts- und Vorsorgeprinzips und der medizinethischen Standards des deutschen Bildungswesens in der Covid-Krise: The Failure of Schools under Covid-19 Policies in Germany – what it means and how it could happen. A social-hermeneutical ethics perspective. Władza Sądzenia Okładka najnowszego numeru 21/2021: 17-30. ISSN: 2300-1690. URL: https://wladzasadzenia.pl/nr/21-2021/

22 Symptomatisch für dieses Problem ist ein Positionspapier des Wissenschaftsrats, welches zwar auch die mangelnde Einbindung der Sozial- und Geisteswissenschaften kritisiert, ihnen aber eine dienende Rolle im Rahmen des „Schutzparadigmas“ zuzuweisen scheint. Vgl. Impulse aus der Covid-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland, Januar 2021, S. 16. https://www.wissenschaftsrat.de/download/2021/8834-21.pdf?__blob=publicationFile&v=15 (09/03/22)

23 Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin 2020, S. 39, 116, 161f., 272.